Wer meinen Blog schon etwas länger verfolgt, wird sicher schon bemerkt haben, dass ich die Situationen des Lebens sehr gern aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachte. Deshalb möchte ich mich heute einmal kritisch mit der „guten Krankheitsbewältigung“ auseinandersetzen.
Warum habe ich mir die Frage gestellt, ob es eine Kehrseite der guten Krankheitsbewältigung gibt?
Wie so viele von uns Bechtis (und andere Menschen auch) habe ich einen hohen Leistungsanspruch an mich selbst und es hat mich viel Veränderungswillen gekostet, mich an den Stellen zurückzuhalten, an denen die Krankheit das von mir gefordert hat. Wenn ich also sage, dass ich etwas nicht kann, hat mich das bis dahin schon Überwindung gekostet und ist keinesfalls ein „ich will nicht“. Wenn mir das dennoch unterstellt wird, weckt das meinen Zorn.
Die Zweifel meines Gegenübers, als ich eines Tages auf meine Grenzen hingewiesen habe, haben mich echt geärgert. Was für ein guter Anzeiger dafür, dass hier für mein Gegenüber wohl etwas nicht ganz schlüssig oder plausibel sein konnte. Das hat in mir zunächst die Gedanken aufkeimen lassen, ob den Menschen, die mehr jammern, der Schmerz leichter geglaubt wird und hat daher mein konstruktiver Umgang mit den Schmerzen für mich sogar Nachteile???
Vielleicht kennst du das auch? Da bringst du alle Kraft auf und wendest alle dir bekannten Strategien zur Bewältigung einer chronischen Schmerzerkrankung an und kannst deine Gedanken auf die schönen Aspekte des Lebens lenken. Auf dein Umfeld wirkst du womöglich eher fröhlich und voller Lebensmut. Die eine Seite der Medaille. Niemand kann allerdings von außen erkennen, dass du bis zu diesem Punkt sehr viel mehr Ressourcen genutzt hast und Aufwand nötig war, als bei gesunden Menschen. Und obwohl du fröhlich bist, braucht es mehr Phasen der Erholung – auch durch diesen Aufwand. Das ist von außen aber meist nicht zu sehen. Das ist die Kehrseite der Medaille.
In der Vergangenheit war eine meiner persönlichen Strategien, einfach so zu tun, als ob ich nach wie vor so leistungsfähig, wie ein gesunder Mensch sein könnte. Das war ja auch lange der Fall. Doch mit den hier beschriebenen Strategien lässt sich die Erkrankung ja höchstens gut aufhalten – jedoch nicht heilen. Und die vorhandenen Schäden fordern natürlich auch ihren Tribut. Das bedeutet in meinem Fall, dass ich weniger leistungsfähig bin, als noch vor fünf Jahren. Ich finde die Aufgabe schwierig, eine gute Balance zwischen „hey, ich kann das noch alles so gut wie früher“ und „ich kann überhaupt nicht mehr“ (weil ich über meine Leistungsgrenze gegangen bin und mich in voller Erschöpfung befinde) herzustellen.
Dabei helfen mir viele Achtsamkeitsübungen (wie z. B. Malen oder Meditation), denn mit diesen kann ich meine Grenzen besser wahrnehmen. Das ist ja wohl der erste Schritt, um auf diese auch gut achtgeben und sie wahren zu können.
Inzwischen kann ich durch die Wahrnehmung und Wahrung meiner Grenzen meine Einsatzfähigkeit besser einschätzen und konstant halten. Es bleibt jedoch für mich eine Herausforderung, wie ich mein Umfeld in diese Aufgabe mit einbeziehen kann und auch mal Grenzen aufzuzeigen, wenn das angebracht ist.
Wenn ich versuche, mich in die Personen aus meinem Umfeld hineinzuversetzen, muss es für sie womöglich schwer nachvollziehbar sein, wie ich im persönlichen Kontakt fröhlich sein und optimistisch und lebenslustig wirken kann und im nächsten Moment bin ich womöglich sogar arbeitsunfähig. Sie können ja nicht sehen, dass ich das erlernte „Werkzeug“ permanent anwenden und nutzen muss, um mir dieses Gefühl von Vitalität zu erhalten. Und ja – das ist ein erhöhter Aufwand und kostet mich auch etwas. Das sieht man von außen dann ja nicht. Wenn ich da aber entscheidende Fakten nicht erklärt habe, wie kann ich da auch Verständnis erwarten?
Das kann man vielleicht sehr gut mit folgendem Bild vergleichen: Da treibt man mit Hilfe eines Fahrraddynamos einen Fernseher an, der eine fröhliche Szene zeigt. Man hat irgendwann mal gelernt, wie man dieses Fahrrad fährt und hat das so sehr verinnerlicht, dass man gar nicht mehr darüber nachdenken muss. Das gelingt scheinbar mühelos. Und womöglich macht es einem sogar Spaß und man kommt so richtig in flow, weil es einfach auch guttut. Doch es kostet Kraft, in die Pedale zu treten und wenn man nicht darauf achtet, auch wieder einmal Kraft zu schöpfen und Pause zu machen, dann bleibt das aus, was auf dem Bildschirm die fröhliche Szene zeigen lässt.
Na klar hinkt der Vergleich, denn meine Fröhlichkeit und Vitalität ist ja etwas, was aus dem Innen heraus – also intrinsisch – vorhanden ist. Das ist keine Maske die ich aufsetze oder ein Theaterstück, das gezeigt wird. Doch das mit dem Kraftaufwand wird so gut beschrieben. Es braucht Aufwand, mit diesem Teil meines Selbst gut in Kontakt zu bleiben und das wieder in den Vordergrund zu rücken – wenn mal wieder eigentlich der Schmerz mehr Aufmerksamkeit verlangt.
Aber was wäre denn auch schon die Alternative? Lieber investiere ich an dieser Stelle Kraft und erarbeite mir ein lebenswertes Leben, als mit negativen Gedanken in einen Abwärtsstrudel zu geraten, der schlussendlich auch die Erkrankung selbst befeuern würde. Zum Glück habe ich die Wahl.
Vielleicht hast du ja schon einmal von dem sogenannten „Halo-Effekt“ gehört. Damit beschreibt man in der Psychologie ein Phänomen, dass Menschen anderen Personen Merkmale/Eigenschaften aufgrund einzelner (äußerer)Merkmale zuschreiben. So belegen z. B. Studien, dass attraktiven Personen Intelligenz zugeschrieben wird, ohne einen Beleg dafür zu kennen. Und umgekehrt verbindet man Menschen mit Behinderung zwar mit viel zwischenmenschlicher Wärme, spricht ihnen jedoch Kompetenz ab.
Damit Menschen in meinem Umfeld nicht diesem Effekt folgend von meiner Fröhlichkeit einfach auch auf Gesundheit schließen, muss ich darüber sprechen, wie es in mir aussieht. Wie sollen sie es ansonsten nachvollziehen können?
Aber manchmal tut es ja auch einfach gut, wenn Menschen, die mich nicht kennen, mit mir auf den ersten Blick gar keine Erkrankung verbinden. Das zeigt mir ja auch, dass sich all meine Bemühungen zugunsten Symptomfreiheit auch nach außen zeigen.
Wenn es mir gut geht und ich mich leistungsfähig fühle, möchte ich ja auch Aufgaben übernehmen… die Fähigkeit, etwas bewirken zu können, baut ja auch auf. Doch es ist wichtig wahrzunehmen, was gut geht und was nicht – und das auch den Mitmenschen mitzuteilen. Nur so können sie das auch berücksichtigen.
Ich habe für mich beschlossen, transparent mit meiner Erkrankung umzugehen. Und ich nehme in Kauf, meine Kompetenz womöglich mehr belegen zu müssen, um dem Halo-Effekt zu begegnen. Denn je mehr Menschen ich in meinem Umfeld über meine Erkrankung informiere, je mehr Verständnis und Unterstützung erhalte ich. Wenn mein Umfeld nachvollziehen kann, dass ich mithilfe eines Aufwandes fröhlich und vital durchs Leben gehen kann, ist es auch nachvollziehbarer, dass dieser Aufwand auch manchmal nicht zu leisten ist oder auch mal nicht ausreicht und es zu Phasen der Erschöpfung kommt. Natürlich gibt es auch Personen, die ihr eigenes Päckchen zu tragen haben und nicht in der Lage sind, für mich Verständnis aufzubringen. Zum Glück überwiegen jedoch die anderen Menschen in meinem Umfeld. Und mit welchen Menschen ich mich umgebe, liegt auch in meiner Wahl. Die haben sich ein gutes eigenes Bild von meinen Merkmalen und meinen Eigenschaften gemacht und haben mich integriert. Das Bild des (sozialen) Netzes ist da so wunderbar passend – denn es trägt und gibt Halt. Und das hilft mir wiederum bei der Bewältigung dieser Erkrankung. Und dafür bin ich sehr dankbar.
Nun arbeite ich ja auch im medizinischen Bereich und da kann man mir auch im beruflichen Umfeld naturbedingt vielleicht mit mehr Verständnis begegnen. Und ich berichte hier ja auch von meinem individuellen Erleben. Entscheide gut für dich selbst. Und wäge ab zwischen dem, was ein transparater Umgang dir an Chancen ermöglichen kann und dem, welche Risiken damit wohl einhergehen könnten. Wenn du noch keine großen Einbußen erlebst, dann ist es vielleicht auch noch gar nicht an der Zeit, Personen des äußeren Kreises mehr preiszugeben. Sollten dich gesundheitliche Einschränkungen bereits erkennbar beinträchtigen, kann es eine gute Entscheidung sein, dem Umfeld die nicht sichtbaren Umstände zu erklären.
Es bleibt natürlich jedem selbst überlassen, wieviel er oder sie von den so persönlichen Dingen preisgeben möchte. Wer sich jedoch Verständnis wünscht, sollte seinem Gegenüber auch das Verstehen ermöglichen… durch das Mitteilen von Fakten.
Wenn ich nun die Frage nach der Kehrseite wieder aufgreife, komme ich zu dem Schluss, dass die gute Krankheitsbewältigung auf der einen Seite der Medaille einen vitalen und fröhlichen Menschen zeigen kann, für die Mitmenschen der damit verbundene Kraftaufwand – die Kehrseite der Medaille- nur schwer ersichtlich und verständlich ist. Nun liegt es an dir, ob du die Medaille auch einmal umdrehen möchtest.
Heute mal wieder ein langer Gedankenanstoß, der dir und euch hoffentlich hilfreiche Sichtfenster öffnen kann.
Für heute mit herzlichen Grüßen,
Muna
(c) Titel-Bild pexels-photo-343720